Leseprobe: Brunhilda, die Skaldin

Nachdem sich Emil von Thor dem Donnergott samt seinen beiden Ziegenböcken gebührend verabschiedet hatte, flog er in Richtung Süden, ganz so, wie es ihm Thor gesagt hatte. Nach kurzer Zeit erreichte er den See, der aus der Luft einem Auge glich. Um sich ein bisschen abzukühlen, stürzte er sich wagemutig in die Fluten. Gleichzeitig schnappte er sich ein gutes Dutzend edelster Maränen. „Ihr schmeckt wirklich lecker, ihr kleinen Fischchen“, dachte Emil und glitt immer weiter in die Tiefe. Der Grund des Sees sah gruselig aus und ähnelte einem zusammengerollten Igelbalg. Dicht an dicht ragten spitze Baumstümpfe aus dem felsigen Seeboden. Der See selbst vertiefte sich kegelförmig wie ein umgedrehter Vulkan.
Als Emil nach einem kurzen Tauchgang wieder zur türkisfarbenen Wasseroberfläche aufstieg, fiel sein Blick auf eine kleine Wiese am Rand des Sees. Dort saß, angelehnt an einen morschen Baumstumpf, ein junges Mädchen mit weißblondem Haar. Sie schien zu schlafen, denn ihre Augen waren geschlossen.
‚Eine Prinzessin!‘, schoss es dem Drachen Emil durch den Kopf. ‚Ja, es muss eine Prinzessin sein, denn sie riecht sooo gut!‘ Emil schwamm behutsam und ohne größere Wellen zu verursachen näher an die Schlummernde heran. Vorsichtig streckte er seinen Hals aus, immer weiter, aber bedächtig, denn er wollte das zarte Wesen nicht wecken oder gar erschrecken. Dass der Anblick eines Drachen erschreckend auf Mensch und Tier wirkt, wusste er aus Erfahrung. Emil schob seine Nase ganz dicht an des Mädchens Füße.
‚Ja, eine Prinzessin!‘, freute sich Emil gedanklich. ‚Zweifellos, denn die Füße von Rittern und Bauern riechen anders, erbärmlich sogar. Die kenne ich. Von den Stinkefüßen der Trolle ganz zu schweigen!‘
Plötzlich spürte er, wie er sich mit einem seiner spitzen Eckzähne in etwas verfangen hatte. Ist das … ein Kettenhemd?! Emil erschrak ganz gewaltig. ‚Ein Mädchen im Kettenhemd!‘, schoss es ihm durch die Kopfschuppen, die steil aufragten, ‚wie peinlich!‘ Und wie er noch mit aller Vorsicht und Geschicklichkeit versuchte, der verzwickten Lage Herr zu werden, blinkte es silbern zwischen seinen Augen auf.
„Schön still bleiben! Nicht bewegen!“, fauchte das Mädchen furchtlos und hielt Emil mit seinem Schwert auf Abstand. „Wenn du glaubst, mich verspeisen zu können, irrst du dich gewaltig. Ich spalte dir den Schädel, noch ehe du nach deiner Mama rufen kannst!“
Emil rollte verlegen mit den Augen.
„Ich will dich nicht fressen.“
„Wenn du mich nicht fressen willst, was willst du dann?“
„Ich hänge fest. Ich wollte nur ein bisschen an dir riechen.“
„An mir riechen? Den Schwachsinn soll ich dir glauben?“
Emils Nase begann kleine Rauchwölkchen auszustoßen.
„Spuckst du Feuer, steche ich zu“, drohte das Mädchen mit fester Stimme und sah den Drachen mit seinen blauen Augen und seinen zusammengekniffenen schwarzen Augenbrauen an.
„Fauch, schmauch, Drachenzahn, ich bin der Drache Emil, Freund der Tiere, Menschen und sogar der Trolle. Ich stecke fest, weil ich ein Dummkopf bin.“
„Ha, sehr gut! Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Ich bin Brunhilda, eine Skaldin.“
„Eine Skalpin?“ Emil erschrak etwas.
„Eine Skaldin, du Dummkopf – eine Dichterin, eine Verfasserin großer Epen und herrlicher Heldenlieder. So etwas wie du ist mir noch nie untergekommen. Vielleicht baue ich dich in mein neues Lied ein, an welchem ich gerade arbeite.“
„Die Lieder der Menschen können sehr lang sein. Vielleicht befreist du mich zuerst?“
Brunhilda lachte. „Das ist gut! Ich, ein Mädchen, befreie den Drachen! Das glaubt mir keiner!“ Und mit diesen Worten drückte Brunhilda den Drachenzahn aus ihrem Kettenhemd.
„Bist ein recht hübsches Kerlchen, Drache Emil“, gestand Brunhilda und richtete sich auf.
„Danke“, fauchte der Drache Emil, „du bist auch ein hübsches Ding!“
Brunhilda verneigte sich höflich und rückte ihren Helm zurecht.
„Um was geht es denn in deinem neuen Lied?“, wollte Emil wissen.
„Ich dichte gerade ein großes Lied auf den jungen König Sigurd.“
„Du kennst Sigurd?“ Emil platschte mit den Flügeln auf die Seeoberfläche. „Kennst du auch seinen Vater, Ragnar?“
„Ich kenne beide, Sigurd und Ragnar. In meinem Lied wird Sigurd einen Drachen töten. Deshalb nenne ich es ‚Sigurd der Drachentöter‘.“
Emil teilte Brunhildas überschwängliche Freude über diesen Titel ganz und gar nicht.
„Immer wollt ihr Menschen uns nur aufspießen, erschlagen, durchbohren. Drachen haben auch Gefühle! Ich habe eine Mama und einen Papa. Mein Papa hat Ragnar erst groß gemacht, und das nicht freiwillig. Ihr nennt Ragnar einen großen König. Wie dumm! Er bringt ganze Sippen um und ihr verehrt ihn. Ich glaube auch nicht, dass Sigurd einen Drachen töten würde, denn ich weiß, dass er einen Drachen zum Freund hat – meinen Papa!“
Brunhilda errötete. Sie kniete sich nieder und umfasste Emils Drachennase.
„Du hast recht. Ich bin dumm. Sigurd und der große Drache sind Freunde. Täglich treibt es die beiden auf die See hinaus. Ich werde mein Lied umschreiben!“
„Na, ganz so schlimm steht es mit deinem Verstand nun auch wieder nicht“, fauchte Emil besänftigend. „Wo finde ich denn die beiden?“
„Man erzählt sich, dass es Sigurd und den Drachen oft nach Isenland treibt, dorthin, wo die Vulkane brodeln.“
„Fauch, schmauch, Drachenzahn, dann weiß ich, wo ich sie finden kann! Ich danke dir, große Dichterfürstin, und vergiss niemals: Drachen haben Gefühle!“
Brunhilda lachte. „Nein, das vergesse ich bestimmt nicht. Mach’s gut, Emil, und viel Glück!“
Emil erhob sich in die Lüfte und verschwand.