Bowin, der alte Wisent – eine ernste, aber vielleicht auch schöne Geschichte ….

Schwer gebeugt trotette ein alter Wisent über die saftige, summende Wiese. Ab und an senkte er seinen wuchtigen Kopf und fraß Gräser, Halme und Kräuter. Seine feuchten Nüstern sogen begierig die würzigen Düfte der Wiesenkräuter und Blumen auf. Er musste sich auf seine Nase verlassen, denn sein Augenlicht verblaßte nach und nach. Und auch seine Muskeln, für die ihn die jungen Wisentstiere einst beneideten, ließen ihn immer häufiger im Stich.
Dennoch dachte er noch lange nicht ans Sterben.

Bisin-1

Ganz im Gegenteil! Wie ein Baum an einem steilen Abgrund, dessen Wurzeln weit und tief ausgriffen und jeden Felsvorsprung zum Halt nutzten, klammerte sich der Wisentbulle ans Leben.
Wisentbullen, zumahl betagtere, leben ohne ihre Familie und ziehen allein durch die weiten Wälder. So hat es die Natur vorgesehen, so ist es gewollt. Und auch Bowin, so hieß unser falbrauner, zottiger Wisent, war ein Einzelgänger.
Gerade als seine altersschwachen Augen eine Diestel erspähten, zog ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Ein Drache!, fuhr es ihm durch seinen mächtigen Schädel, so soll es also enden. Mit meinen stumpfen Hörnern werde ich ihm kein gebührender Gegner sein. Bowin sah sich angestrengt um. Entweder er ist so groß und gewaltig, dass ich ihn glatt übersehen habe oder aber …
„Bist du so etwas wie ein Bär auf vier Füßen?“ erklang eine helle Stimme plötzlich nur einen sprungweit vor ihm.
Bowin stampfte mit den Vorderhufen. So nahe durfte ihm niemand kommen!
„Bleib wo du bist, Drache!“
Sicher könnt ihr, liebe Leser, es euch schon denken, wer der Drache war, der da vor dem Wisent stand. Na klar, es war Emil.
„Ich wollte sie nicht stören“, fauchte Emil etwas verschüchtert und zog sicherheitshalber den Hals ein.
Bowin spürte, dass ihm keine Gefahr drohte, denn Emils Kinderstimme klang viel zu hoch und unrauchig. Ganz und gar nicht, wie die uralter Drachen. Er trat einige Schritte an Emil heran und hob den Kopf.
„Du bist ein kleiner Drache“, stellte er staunend fest. „Gibt es hier noch mehr von euch?“
„Nur noch meine Mama, aber die schläft.“ Bowin brummte verlegen. Vor diesem kleinen Kerl brauchte er keine Angst haben. Mit dem müsste er nicht kämpfen, wie einst, vor langer Zeit, als er noch ein Jungbulle war und ein roter Drache seine Herde bedrohte.
Damals rannte er furchtlos gegen den übermächtigen Gegner an. Gesenkten Hauptes und mit spitzen Hörnern rammte er die Brust des Drachen. Der Stoß war härter als der Prankenschlag eines Bären. Dem Drachen schien es, als wäre er mit einem Felsen zusammengeprallt. Ihm wurde schummrig vor Augen und leicht benommen torkelte er zur Seite. Der mutige Bowin aber nahm bereits zum zweiten Mal Anlauf. Der Drache spieh Feuer, das letzte Mittel, den Hörnern des Wisents zu entgehen. Die Lohe war so heiß, dass sie Bowin versengte. Doch trotz der Schmerzen lief er weiter und rammte den Drachen erneut. Der anfänglich ungleiche Kampf, Drache gegen Wisent, endete mit dem Sieg des Wisents. Der Drache erhob sich in die Lüfte und suchte das weite. Bowin sah ihm mit grimmigem Blick hinterher.
Nun sah er zu Emil.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, wisperte Emil.
Bowin brummte lachend: „Du vor mir auch nicht!“
Dann senkte er sein Haupt und fraß vergnüglich die Diestel. Emil erzählte unterdessen von sich, seiner Mama und dem Leben im Moor. Und ab und an erzählte auch Bowin etwas aus seinem Leben. Und wie die beiden, der kleine Drache und der alte Wisent, erzählten und erzählten, brach die Nacht heran.
Bowin sah die Sonne versinken und legte sich inmitten der saftigen Wiese nieder.
„Emil, mein braver Junge“, sagte der alte Wisent, „geh zu deiner Mama zurück. Sie wird bestimmt schon auf dich warten.“
„Das mache ich, Bowin. Du hast mir viele gute Geschichten erzählt. Vielleicht kennt Mama den roten Drachen? Ich werde sie gleich fragen.“ Bowin sah dem kleinen Drachen lange hinterher. Dann brummte er, mehr zu sich selbst: „Ich werde heute nicht alt.“
Das waren seine letzten Worte. Dann schlief er schnaufend ein und wachte nie wieder auf.