Die Geburt eines Drachen – eine neue Emilgeschichte

Lava, die Drachenmutter, legte die Flügel an und ließ sich vorsichtig neben ihrem Kind nieder. Dann begann sie, mit tiefer, rauchiger Stimme zu sprechen: „Der Tag deiner Geburt, Emil, begann mit hellem, warmen Sonnenschein. Als Höhle für uns hatte ich eine Grotte am Meer ausgewählt. Dort vergrub ich dich in deinem Ei im Meeressand. Eine lange, lange Zeit wachte ich über dich und wärmte dich mit meinem Körper.“

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Die Drachenmutter hielt kurz inne. Die Brutzeit eines Drachen dauert fast ein ganzes Jahr und kostet die Eltern viel Kraft, schenkt ihnen aber auch viel Freude. Doch Emils Mama war zu jener Zeit oft betrübt und traurig, denn ihr geliebter Mann, der große Seedrachenkönig Kreator, war fort, gefangen, in Ketten liegend – ein unglücklicher Diener eines grausamen Wikingerkönigs. Während sie diesen bedrückenden Dingen nachhing, streichelte ihr kleiner Emil ihre Stirn und fragte, als ob er die Gedanken seiner Mama hätte hören können: „Mama, wo war denn Papa?“
Lava seufzte. Sie konnte ihrem kleinen Liebling nicht die Wahrheit sagen, so sehr schmerzte es sie.
„Dein Papa musste fort. Er konnte nicht bei uns bleiben. Aber eines Tages kommt er wieder. Das weiß ich genau.“
Emil sah seine Mama mit großen Kulleraugen an.
„Dann kann ich ihm zeigen, wie gut ich schwimmen kann!“
„Das wirst du, und noch viel mehr!“
„Aber wie bin ich denn nun geschlüpft?“
Lava stieß eine Feuerlohe aus. Das machte sie mit solcher Selbstverständlichkeit, wie Menschen manchmal tief ausatmen, wenn sie an etwas Schönes denken.
„Der Tag verging, und noch ehe die Dunkelheit hereinbrach, begannst du in deinem Ei an der Schale zu kratzen. Ich hörte es ganz deutlich und wusste sofort, dass noch in jener Nacht ein kleines, aber großartiges Leben diese Welt betreten würde.“
„Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie ich gekratzt habe“, sagte Emil nachdenklich.
„Ich weiß es noch ganz genau. Die ganze Nacht über hast du von innen an der Schale gekratzt und geritzt – erst zaghaft, später energischer. Das Ei wackelte dabei und mit einem Mal brach es oben auf. Und dann streckte ein kleiner Drache seinen Kopf heraus. Mit deinen kleinen Krallen, die noch ganz weich waren, hast du dann Stück für Stück die Schale zerbrochen. Und als das Ei zur Hälfte geöffnet war, bist du vollständig herausgeschlüpft, direkt unter meine Flügel. Du hast gepiepst wie ein Vögelchen und warst das niedlichste Drachenbaby der Welt.“
Emil war gerührt. Wie die Augen seiner Mama strahlten! Nun sollen die Leser sich nicht wundern, denn nicht nur Menschenmütter halten ihre Babys für die schönsten der Welt; das tun auch die Drachenmütter!
„Ich habe dich dann, so wie wir es seit Millionen Jahren tun, mit Feuerstrahlen gewärmt. Im Feuer wird unsere Haut immer härter und undurchdringlicher. Da dein Vater ein Seedrache ist, lernte ich dir vom ersten Tag an tauchen und schwimmen, was dir leicht fiel, weil es dir im Blute lag. Eines Tages, als wir wieder einmal im weiten Meer planschten und die Sonne so herrlich schien, hast du deine Krallen um meinen Hals gelegt, mich angesehen und das erste Mal „Mama“ zu mir gesagt. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen.“
Über die Erzählung der Drachenmutter war die Zeit vergangen. Der kleine Emil schmiegte den Kopf an den Leib seiner Mama und schloss die Augen. Er war müde, und glücklich.
„Träum süß, mein kleiner Emil“, fauchte die Drachenmutter leise und breitete schützend ihren Flügel über ihr schlafendes Kind. Sie selbst sah noch lange in die Sterne, mit Augen so feucht wie das Meer.