Emil und das Ungeheuer vom Waldsee

Manchmal wurde es dem kleinen Emil langweilig im Moor und er bat seine Mama, mit ihm doch irgendwohin zu fliegen. Der Drachenmutter war es recht, denn ihr behagte das faule Sumpfwasser ganz und gar nicht. So war es auch an diesem Tag. Sie packte ihr Kind und setzte es auf ihren Rücken.
„Halt dich gut fest, Emilchen,“ sagte sie mit sanfter, rauchiger Drachenstimme, „es wird ziemlich stürmisch da oben in den Lüften!“
Emil konnte es noch gar nicht erwarten mit seiner Mama loszufliegen und ehe sich die Drachenmutter versah, hatte ihr Kind schon Arme und Beine um ihren Hals gelegt. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sich die Drachin über das stille Moor. Enten und Birkhühner flatterten von den Drachen aufgeschreckt wild umher und die sonst ängstlich stillen Frösche begannen nun ein munteres Gequake.
Nachdem die beiden eine geraume Zeit geflogen waren, kamen sie an einen runden klaren See, der ringsum von Eichen und Buchen umgeben war. Vom Seegrund schimmerten abgefallene Blätter durch das Wasser und ein paar Enten schienen die einzigen zu sein, die sich auf den Wellen tummelten. Was für ein schöner Waldsee, dachte die Drachenmutter und landete auf einem Wiesenhügel. Von hier aus war der See hervorragend überschaubar. Da sie weder Menschen noch Trolle witterte, drohte keine Gefahr.
Der See war von einem Schilfgürtel umsäumt und voller Fische. Das wird eine leckere Speise geben, dachte die Drachin. Emil war indes an den Rand des Hügels gelaufen und beobachtete die Wasserfläche. In der Mitte des Sees erblickte er einen drachengroßen Schatten, der dort reglos verharrte. Plötzlich überkam den kleinen Drachen etwas Angst. Was, wenn das eines dieser Seeungeheuer ist und es nur auf uns wartet? Vorsichtig kroch er zu seiner Mutter zurück, die ebenfalls mit angestrengtem Blick den See erforschte.
„Mama“, flüsterte Emil, sich dabei furchtsam umschauend, „dort im See lauert ein Seemonster auf uns.“
Die Drachenmutter beugte bedächtig ihren Hals zu Emil hinab.
„Ach, Emilchen“, sprach sie leise, „kein Seemonster, sondern ein Schwarm Karpfen.“
„Krapfen?“
„Karpfen, große dicke Fische, die ziemlich köstlich schmecken. Komm, laß uns ein paar fangen. Ich zeige dir, wie man das am besten macht.“
Kaum hatte die Drachenmutter das gesagt, stieg sie in den See. Der kleine Emil folgte seiner Mama, denn er war ein geübter Schwimmer. Die beiden Drachen tauchten und jagten fast eine Ewigkeit, wobei die Drachenmutter immer wieder pfeilschnell in den Karpfenschwarm stieß.
Wie köstlich schmeckten die dicken Fische!
Emil war begeistert. Endlich konnte er sich einmal richtig den Bauch vollschlagen, denn an den Fröschen im Moor war ja nicht viel dran.
Plötzlich gewahrte Emil einen mächtigen grünbraunen, schuppenlosen Fisch, der ebenfalls mit der Schnelligkeit eines Pfeils an die Wasseroberfläche schoß. Als er sein breites Maul öffnete, an welchem lange Bartfäden hingen, sah Emil viele kleine Zähne im Unterkiefer sitzen. Ein Räuber!
Doch, oh weh! Der Fisch hatte es auf ein junges Entlein abgesehen, das ohne Böses zu ahnen, zwischen den Schilfzweigen nach seiner Familie suchte.
Die kleine Ente wirst du nicht fressen, dachte Emil und stieß den alten Räuber mit seiner Drachennase kräftig in die Seite. Wütend drehte sich der Fisch zu Emil um.
„Wer wagt es, mir, dem Wels, in die Quere zu kommen?“ knurrte er zornig.
Doch wie erstarrt war der alte Schlammwühler als er Emil sah, denn der kleine Drachen war bestimmt doppelt so groß wie er.
„Ich will nicht, daß du die Ente frißt!“ sagte Emil, den Wels umkreisend.
„Bleibst du länger?“ fragte dieser vorsichtig.
„Nein, Mama und ich fliegen bald los, denn es wird schon dunkel.“
„Wenn du aus dem See steigst, sag den Enten, daß ich auf sie lauere.“
„Das werde ich tun!“
Der Wels tauchte ab und verschwand im Schlick des Seegrundes, wo er sich am wohlsten fühlte. Als Emil an die Oberfläche zurückkehrte, flogen die Enten schnatternd auf und suchten das Weite. Auch die kleine Ente nahm reißaus und suchte sich im dichten Schilf zu verstecken.
„He“, rief Emil den Vögeln hinterher, „der alte Schlammwühler hat es auf euch abgesehen! Ihr müßt aufpassen!“ Doch Emils Warnung blieb ungehört.
Auf der Wiese sah er schließlich seine Mama liegen, die auf ihn wartete. Schnell kraulte er mit seinen Flügeln ans Ufer und erzählte ihr, was er erlebt und wie er die kleine Ente vor dem Wels gerettet hatte.
Die Drachenmutter streichelte ihn zärtlich mit ihren Krallen über den Kopf.
„Emilchen“, sagte sie mit einem warmen Lächeln, „du bist ein wahrer Held!“