Das alte Krähenpaar

Jedes Jahr unternahmen Elsa und Wilfried, ein altes Krähenpaar, einen Abstecher ins Moor. Als Grund gaben sie gegenüber ihren Verwandten an, im Moor ließe es sich fern des Krawalls, den die jungen Krähen unentwegt veranstalteten, in Ruhe ausspannen. Und so war es auch in diesem Jahr und um genau zu sein, es war im Spätsommer.

 

Am liebsten saßen Elsa und Wilfried auf einem dicken, gebogenen Birkenast, der gleich einem riesigen Arm aus dem Moor ragte. Wilfrieds Lieblingsbeschäftigung war das Angeln. Mit unerschütterlicher Ruhe saß er auf erwähntem Ast und wartete, bis ein Insekt, welches ins Wasser gefallen war, vorübergeschwommen kam.

 

Geschickt zog er es dann mit dem Fuß oder dem Schnabel aus dem Wasser. Ein kleines Kunststückchen, wenn man bedenkt, daß Wilfried nicht mehr der Jüngste war und bei solchen akrobatischen Übungen leicht hätte ins Wasser fallen können.

 

Elsa ging die Sache ruhiger an und wartete, bis sich ein unvorsichtiger Käfer auf den Birkenstamm verirrte. Natürlich waren Insekten nicht unbedingt die Leibspeise der beiden Aaskrähen, aber mit zunehmendem Alter werden auch Krähen genügsamer.

 

Gerade als Elsa einen schwarzglänzenden Battkäfer verschlucken wollte, tauchte vor ihrem Schnabel unser Emil aus dem Wasser auf.

 

„Hallo, wer seid ihr denn?“ fragte der kleine Drachen und schnaufte.

 

Man muß an dieser Stelle sagen, daß Emil noch nie in seinem bisherigen Drachenleben Krähen gesehen hatte.

 

„Kräh, kräh,“ krächzte Elsa erschrocken und flog auf.

 

Auch Wilfried krähte heiser und nahm reißaus.

 

„Warum fliegt ihr denn fort?“ rief Emil den beiden hinterher, „Ich tue euch doch nichts!“

 

„Raa, raa, der große Fisch spricht!“ kommentierte Elsa.

 

„Kräh, kräh, das ist kein Fisch sondern ein Drachen,“ bemerkte Wilfried.

 

„Raa, Raa, natürrrlich ist das ein Fisch. Immer willst du alles besser wissen.“

 

„Kräh, kräh, Ja, du hast recht, es ist ein Fisch.“

 

„Nein, ich bin kein Fisch, ich bin Emil der Drachen. Und wer seid ihr?“

 

Die beiden alten Krähen sahen sich vielsagend an. Dann landeten sie wieder auf ihrem Birkenstamm.

 

Zuerst ergriff Elsa das Wort. Überhaupt schien es, als führe sie das krähische Regiment im Haus.

 

„Raa, raa, ich bin Elsa Rabenstein, geborene Pechvogel und das hier ist mein Mann Wilfried. Du hast uns erschrrreckt.“

 

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“

 

„Raa, wer oder was in aller Krähen Namen bist du denn?“

 

„Ich bin ein Drachen!“ antwortete Emil.

 

„Raa, wußte ich es doch,“ erwiderte Elsa, „das habe ich doch gleich gesehen. Appropos sehen. Was siehst du uns denn so merkwürdig an?“

 

„Ihr seht beide so gleich aus!“ sagte Emil verwundert.

 

„Raa, was für eine Frechheit!“ schimpfte Elsa wie eine von einer Vogelscheuche verjagten Saatkrähe. „Raa, raa, Wilfried ähnelt mir in keiner Weise!“

 

„Ihr habt beide ein schwarzes Gefieder, schwarze Augen, schwarze Schnäbel und Füße. Ihr seid kohlrabenschwarz!“ Emil grinste breit.

 

„Kräh, kräh, hör mal Freundchen,“ meldete sich nun Wilfried, „als ich Elsa das erste Mal sah, habe ich mich sofort in sie verliebt. Sie stolzierte damals zwischen Hunderten von Krähen umher, aber mir gefiel ihr hübsches Schwanzgefieder. Sie war eine überaus große Schönheit.“

 

„War?“ krächzte Elsa erbost.

 

„Kräh, kräh, nein, Schatz, du bist es immer noch!“

 

„Raa, raa, das möchte ich dir auch geraten haben.“ Elsa hackte nach Wilfried, traf ihn aber nicht, da dieser geschickt auswich. „Raa, raa, und ich liebte besonders deinen großen Schnabel.“

 

„Fauch, schmauch, Drachenzahn, ihr müßt scharfe Augen haben, wenn ihr diese Unterschiede sehen könnt,“ staunte Emil.

 

„Raa, raa, nicht nur das. Wir erkennen unsere Verwandten am Flügelschlag und am Gekrächze. So fehlt meiner Tante Elfriede eine Schwanzfeder. Sie verlor sie bei einer Attacke eines Habichts.“

 

„Kräh, kräh, und mein Onkel Waldemar hinkt.“

 

„Raa, raa, hat dein Bruder nicht einen verbogenen Schnabel?“

 

Elsa zupfte sich den rechten Flügel.

 

„Kräh, kräh, dafür kann er nichts.“

 

„Raa, raa, aber das er ein Stenkerfritze ist, dafür kann er schon etwas.“

 

„Kräh, kräh, was heißt Stenkerfritze? Er ist ja schließlich der Chef!“

 

„Raa, raa, Chef, Chef, wenn ich das schon höre.“

 

„Kräh, kräh, dafür leuchtet das Gefieder meiner Schwester schöner als das deiner Cousine.“

 

„Raa, raa, was willst du denn damit sagen?“ Elsa war erbost.

 

„Halt“ rief nun Emil dazwischen, „streitet Euch nicht. Das kann sich ja keiner anhören!“

 

„Raa, raa, wer streitet sich denn hier?“ fragte Elsa eingeschnappt.

 

„Kräh, kräh, genau! Ich stimme mit Elsa völlig überein.“

 

„Raa, raa, überhaupt ist das eine grobe Frechheit von Streiten zu sprechen. Wir diskutieren lediglich.“

 

In diesem Augenblick überquerte eine Schaar Krähen das Moor. Sie flogen sehr tief, und als sie Elsa und Wilfried erkannten, erhoben sie ein lautstarkes Gekrächze.

 

„Kraa, Kraa, schließt euch an! Wir wissen, wo es viele Körner gibt!“

 

Wilfried hüpfte auf dem Ast hin und her.

 

„Kräh, kräh, hörst du das, Elsa, mein Bruder hat bestimmt ein neues Saatfeld ausspioniert!“

 

„Raa, raa, ein toller Bursche, dein Bruder, raa, raa, ach was sage ich, ein weitsichtiger Chef!“ krächzte Elsa und flog ab.

 

„Kräh, kräh, siehst du Emil, mit Frauen streiten bringt gar nichts. Am Ende haben sie immer recht.“ Und mit diesen Worten setzte Wilfried seiner Elsa nach und verschwand unter den vielen Krähen am Himmel.